HT 2023: Mehr als Faktencheck! Historische Forschung von Schüler:innen als geschichtskulturelles Kapital

HT 2023: Mehr als Faktencheck! Historische Forschung von Schüler:innen als geschichtskulturelles Kapital

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Martin Schlutow, Institut für Didaktik der Geschichte, Universität Münster

Ein kritischer Umgang mit „fragilen Fakten“ wird gegenwärtig nicht nur Historiker:innen, sondern in gleichem Maße auch Schüler:innen abverlangt. Die Prämisse der von der Körber-Stiftung initiierten Sektion war es, dass gerade Geschichtswettbewerbe mit ihrer Ausrichtung auf forschendes Lernen einen wichtigen Beitrag zur Vermittlung der hierfür benötigten Kompetenzen leisten können. Anlässlich des 50jährigen Jubiläums des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten war es deshalb das zentrale Anliegen der Sektion, das geschichtskulturelle Kapital historischer Schüler:innenforschung im Geschichtswettbewerb als „zwar etablierte, aber bislang wenig erforschte geschichtskulturelle Praxis“ (Saskia Handro) zu diskutieren und Perspektiven für die weitere Entwicklung des Wettbewerbs zu eröffnen. Die Sektion war hierfür in zwei Teile untergliedert: Der erste Teil widmete sich mit vier Impulsvorträgen und anschließender Diskussion unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven auf den Geschichtswettbewerb, während der zweite Teil die Perspektive der Praxis historischer Schüler:innenforschung in den Mittelpunkt rückte. Im Rahmen einer Podiumsdiskussion tauschten sich Akteur:innen aus Schule, Archiv und Wettbewerbsorganisation über ihre Erfahrungen bei der Durchführung des Geschichtswettbewerbs aus und erörterten Ansätze für die zukünftige Gestaltung gelungener Wettbewerbsbetreuung.

Den ersten Teil der Sektion eröffnete SASKIA HANDRO (Münster) mit einer Einführung in zentrale Diskurs-, Forschungs- und Entwicklungsfelder des Geschichtswettbewerbs. Fragt man danach, was der Wettbewerb im Laufe seines 50jährigen Bestehens geschichtskulturell bewegt hat, so stehen laut Handro hierzu zwar keine gesicherten empirischen Befunde zur Verfügung, dennoch lassen sich aus den bisherigen Bestandsaufnahmen vor allem thematische und methodische Innovationspotentiale des Wettbewerbs1 sowie sein Beitrag zur Demokratisierung der Geschichtskultur2 herausarbeiten. Im Hinblick auf seine Offenheit für Schüler:innen nichtgymnasialer Schulformen, das Spannungsfeld zwischen Konventionslernen und kritischer Urteilsbildung bei der Wettbewerbsteilnahme und die Rolle der Tutor:innen bei der Betreuung ihrer Schüler:innen müsse sich der Geschichtswettbewerb jedoch auch kritischen Rückfragen stellen, die es für die zukünftige Entwicklung des Wettbewerbs verstärkt zu diskutieren gelte. Dennoch biete der Geschichtswettbewerb erhebliches geschichtskulturelles Kapital, da er, so Handro, in besonderem Maße epistemisches Lernen und eigenständige Urteilsbildung im Kontext epistemischer Krisen der Gegenwart evoziere. Damit könne der Geschichtswettbewerb auch als kulturelle Kontaktzone einer pluralen Geschichtskultur verstanden werden.

DOROTHEE WIERLING (Hamburg) fragte im darauffolgenden Vortrag nach dem Wechselverhältnis zwischen Geschichtswettbewerb und Geschichtswissenschaft. Dabei erinnerte sie zunächst an die zentrale Bedeutung der Historiker Lutz Niethammer, Reinhart Rürup und Jürgen Reulecke bei der Konzeption des Wettbewerbs in den 1970er-Jahren, da sie für einen „Aufbruch in der bis dahin überwiegend konservativen Zunft“ stünden. Der Wettbewerb forderte dank ihnen Schüler:innen zur alltagsgeschichtlichen Forschung im Nahbereich auf, sodass anspruchsvolle Mikrostudien entstanden seien, die auch heute noch als wichtiges Bindeglied zwischen großen historischen Fragen auf nationaler und globaler Ebene und konkreten lokalen Begebenheiten gelten könnten. Schüler:innen forschten dabei auch zu unbequemen Fragen, wodurch sie sich von den oft affirmativ erzählenden Heimatforscher:innen abhoben. Das methodische Innovationspotential des Geschichtswettbewerbs betonte Wierling in Bezug auf das Aufspüren neuer Quellengattungen in öffentlichen und privaten Archiven, vor allem jedoch hinsichtlich der Integration der oral history in die historische Forschung. Zugleich warnte sie jedoch vor den Herausforderungen, die das Verfahren für Schüler:innen mit sich bringe. So falle es ihnen in der Regel schwer, Zeitzeug:innenaussagen analytisch zu hinterfragen. Abschließend fragte Wierling nach der Zukunft des Wettbewerbs in einer von Globalisierung und Migration geprägten Gegenwartsgesellschaft, in der deutsche und lokale Geschichte nur noch einen kleinen Teil der Bereiche darstellten, in denen Schüler:innen in Geschichte eingebunden seien.

Die Teilnahme am Geschichtswettbewerb ermöglicht also eine aktive Teilhabe an Geschichtskultur – aber gilt dies für alle Schüler:innen in gleichem Maße? In seinem Vortrag widmete sich SEBASTIAN BARSCH (Köln) aus geschichtsdidaktischer Perspektive der Frage nach der Bedeutung des Wettbewerbs für eine inklusive Geschichtskultur. So verwies er zunächst auf statistische Erhebungen der Körber-Stiftung zur Verteilung der Teilnehmenden auf die verschiedenen Schulformen, aus denen eine deutliche Gymnasiallastigkeit bei der Wettbewerbsteilnahme hervorgeht. Auch berichteten Tutor:innen nichtgymnasialer Schulformen von Schwierigkeiten, die Rahmenthemen des Wettbewerbs für Schüler:innen mit Förderbedarf greifbar zu machen, so Barsch. Der Geschichtswettbewerb könne also zwar als „partizipative Ressource“3 verstanden werden, eine inklusive Geschichtskultur sei jedoch nicht von selbst gegeben, sondern müsse erst aktiv erarbeitet werden. Zudem sei die Frage nach der Wirkung forschenden Lernens auf den historischen Kompetenzerwerb der Schüler:innen noch weitgehend ungeklärt. Die wenigen empirischen Studien hierzu lieferten jedoch überwiegend ernüchternde Befunde. Zu erklären sei dies nicht zuletzt durch die komplexen, aus der geschichtsdidaktischen Theoriebildung abgeleiteten Analysekriterien, mit denen Schüler:innenbeiträge beurteilt würden. Abschließend plädierte Barsch deshalb dafür, im Sinne der Subjektorientierung milder mit den Schüler:innenleistungen im Rahmen des Wettbewerbs umzugehen und diese weniger aus der Perspektive geschichtsdidaktischer Theorie, sondern stärker aus der Perspektive der Schüler:innen als Novizen des historischen Denkens zu verstehen.

Im letzten Vortrag richtete CHRISTIAN BUNNENBERG (Bochum) aus der Perspektive der Public History den Fokus auf den Zusammenhang von Digitalisierung und Geschichtswettbewerb. Ausgehend von einer Bestandsaufnahme umfassender Digitalisierungsprozesse in Gesellschaft, Geschichtswissenschaft und Public History stellte er heraus, dass Agendasetting, Gatekeeping und Produktionsmittel heute nicht mehr in den Händen weniger professioneller Akteur:innen lägen, sondern grundsätzlich allen zur Verfügung stünden. Dies bedeute jedoch auch, dass Schüler:innen entsprechende Kompetenzen zur Entwicklung und Nutzung digitaler Formate der Public History benötigten. Auch beim Geschichtswettbewerb werde dies deutlich, da unter den so genannten kreativen Beitragsformen zunehmend auch digitale Produkte zu finden seien. Für Juror:innen stellten diese Beiträge mitunter eine Herausforderung dar. So werde empirische Triftigkeit beispielsweise auf einer Website – der medialen Eigenlogik entsprechend – in der Regel nicht über Fußnoten ausgewiesen, wie dies in den etablierten schriftlichen Beiträgen üblich sei, was bei der Beurteilung der Beiträge entsprechend zu berücksichtigen sei. Abschließend verwies Bunnenberg auf unterstützende Angebote zur Betreuung von Schüler:innen bei der Erstellung digitaler Beiträge durch die Körber-Stiftung einerseits und die noch kaum abzuschätzenden Folgen der Etablierung von Künstlicher Intelligenz für historische Schüler:innenforschung andererseits.

In der Diskussion der vier Vorträge stand zum einen die Frage nach den Anforderungen im Mittelpunkt, die der Geschichtswettbewerb an Schüler:innen stellt. Für den Nutzen des Wettbewerbs zum epistemischen Lernen spreche unter anderem, dass Schüler:innen sechs Monate Zeit hätten, sich intensiv mit ihrer Forschungsfrage zu beschäftigen. Dies sei im schulischen Alltag in dieser Form sonst kaum möglich, weshalb auch die Prozessstruktur der Wettbewerbsteilnahme berücksichtigt werden müsse. Der starke Fokus des Wettbewerbs auf die Schulform des Gymnasiums sei zwar nicht von der Hand zu weisen, treffe aber auch auf viele weitere historische Bildungsangebote zu. Dennoch sei es für die Zukunft des Geschichtswettbewerbs essentiell, bei den Bewertungskriterien für die eingereichten Beiträge die heterogenen Fähigkeiten der Schüler:innen zu berücksichtigen. Eine gezielte Ansprache von Lehrkräften sei zudem eine von mehreren Maßnahmen zur weiteren Öffnung des Wettbewerbs für Schüler:innen jenseits des Gymnasiums. Zum anderen drehten sich mehrere Diskussionsfragen um die Bedeutung der Digitalisierung für die Zukunft des Geschichtswettbewerbs. Einhellig sprachen sich die Vortragenden dafür aus, unter der Rubrik der „kreativen Beiträge“ keine Beschränkung möglicher Beitragsformen vorzunehmen, sondern es den Schüler:innen zu überlassen, ein für ihr Thema geeignetes digitales Format für ihren Beitrag zu wählen. Die Quellenrecherche berge im Digitalen sowohl Potentiale als auch Herausforderungen, jedoch sei es seit jeher eine Stärke des Geschichtswettbewerbs, dass Schüler:innen auch abseits etablierter Pfade neue Recherchewege und Quellengattungen erkunden.

Die von Armin Himmelrath (Hamburg) moderierte Podiumsdiskussion bildete den zweiten Teil der Sektion. EFECAN GÜNES (Alfeld), UTA KNOBLOCH (Dresden), PHILIPP ERDMANN (Münster) und KIRSTEN PÖRSCHKE (Hamburg) tauschten sich aus Schüler- und Lehrerinnenperspektive sowie aus der Sicht eines Stadtarchivs und der Körber-Stiftung über Erfahrungen, Herausforderungen und Zukunftsperspektiven des Geschichtswettbewerbs aus. Perspektivenübergreifend wurden auf Basis der Erfahrungen wesentliche Potentiale des Geschichtswettbewerbs markiert: So werde es den teilnehmenden Schüler:innen ermöglicht, sich Geschichte zu eigen zu machen – dies gelinge im erarbeitenden Geschichtsunterricht deutlich seltener. Zudem könne der Wettbewerb Schüler:innen dazu befähigen, ihre eigene Rolle in Geschichtskultur und Gesellschaft zu reflektieren und auf diesem Wege „Bürger:innen zu werden“. Damit fördere er in besonderem Maße Selbstwirksamkeitserfahren. Insgesamt attestierten alle Teilnehmenden der Podiumsdiskussion damit dem Geschichtswettbewerb, ein wichtiger Bestandteil schulischer und außerschulischer Geschichtskultur zu sein. Je nach Alter und Fähigkeiten der Schüler:innen seien jedoch unterschiedliche Intensitäten und Formen der Betreuung während des Forschungsprozesses notwendig. Ansätze zur gelungenen Unterstützung der Schüler:innen wurden auf verschiedenen Ebenen identifiziert: Neben einer Begleitung des historischen Forschungsprozesses durch die Tutor:innen im Rahmen von Arbeitsgemeinschäften oder ähnlichem sei auch eine Würdigung der Schüler:innenforschung an der eigenen Schule und in der lokalen Geschichtskultur von großer Bedeutung. Angebote der Unterstützung könnten darüber hinaus von den örtlichen Archiven (zum Beispiel in Form von Hilfestellungen bei der Themen- und Quellenauswahl), durch Arbeitsmaterialien der Körber-Stiftung zur Vorbereitung und Durchführung forschenden Lernens oder in Form von Fortbildungen für Lehrkräfte erfolgen.

In der Gesamtschau wurde in beiden Teilen der Sektion damit deutlich, dass Schüler:innen im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten ihre ganz eigenen historischen Fragen stellen, zu überraschenden Forschungsergebnissen gelangen und mitunter „Geschichte gegen den Strich bürsten“. Dieses geschichtskulturelle Kapital empirisch messbar zu machen, erweist sich als äußerst schwierig. In den langjährigen Praxiserfahrungen im und mit dem Geschichtswettbewerb wird es jedoch deutlich spürbar.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Saskia Handro (Münster) / Kirsten Pörschke (Hamburg)

Teil I: Panel mit Impulsvorträgen und Diskussion

Saskia Handro (Münster): Schüler:innenforschungen als geschichtskulturelles Kapital! Anmoderation einer überfälligen Debatte

Dorothee Wierling (Hamburg): „Geschichte von unten“ – wie der Schülerwettbewerb die Geschichtswissenschaft verändert hat

Sebastian Barsch (Köln): Geschichtswettbewerbe und (inklusive) Geschichtskultur – eine geschichtsdidaktische Perspektive

Christian Bunnenberg (Bochum): Gegenwart und Zukunft des Geschichtswettbewerbs in einer Kultur der Digitalität

Teil II: Podiumsdiskussion

Philipp Erdmann (Münster) / Efecan Günes (Alfeld) / Uta Knobloch (Dresden) / Kirsten Pörschke (Hamburg), Moderation: Armin Himmelrath (Hamburg)

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Lothar Dittmer (Hrsg.), Historische Projektarbeit im Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte. Eine Bestandsaufnahme, Hamburg 1999; Detlef Siegfried, Der Reiz des Unmittelbaren. Oral-History-Erfahrungen im Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 8,1 (1995), S. 107–128; Axel Schildt, Avantgarde der Alltagsgeschichte. Der Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte von den 1970er bis zu den 1990er Jahren, in: Knud Andresen / Linde Apel / Kirsten Heinsohn (Hrsg.), Es gilt das gesprochene Wort. Oral History und Zeitgeschichte heute, Göttingen 2015, S. 195–209.
2 Vgl. Stefan Frindt / Sven Tetzlaff, Der Geschichtswettbewerb als Labor für eine demokratische Geschichtskultur, in: Michael Sauer (Hrsg.), Spurensucher. Ein Praxisbuch für historische Projektarbeit, Hamburg 2014, S. 352–367.
3 Saskia Handro, Kinder und Jugendliche machen Geschichte! Geschichtswettbewerbe als partizipative Ressource, in: Westfälische Forschungen 69 (2019), S. 295–327, hier S. 301.

Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts